Mehrere Perspektiven
Du hast das Lied von Eis und Feuer von George R.R. Martin gelesen und bist jetzt ein totaler Fan der Erzählung aus mehreren Perspektiven und möchtest deinen Roman auch so gestalten? Deine Geschichte ist gigantisch, du hast mehrere Charaktere entwickelt, die ungefähr gleich wichtig sind? Du planst, aus mehreren Perspektiven zu schreiben? Diese Art von komplexer Erzählung hat sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Ich möchte es nicht Vor – oder Nachteile nennen, weil Nachteile ausgebügelt werden können und Vorteile nur bestehen, wenn du besagte Herausforderungen gemeistert hast. Ich stelle dir diese im Folgenden vor:
Vorteile:
Du kannst auf mehrere Facetten deiner Welt eingehen
Du hast eine komplett neue Welt erschaffen und möchtest diese deinem Leser möglichst detailliert präsentieren? Wenn du nur aus einer Perspektive schreibst, dann könnte dies unter Umständen schwierig werden. Wenn dein Charakter sich die ganze Zeit nur in einer Stadt herumtreibt, dann kannst du nicht einfach mal auf die exotische Beschaffenheit des Zauberwaldes im Hochgebirge eingehen. Wenn du dagegen mehrere Perspektiven verwendest, dann kannst du die Charaktere in verschiedene Startpositionen setzten und damit ein klareres Bild von deiner Welt zeichnen.
Du kannst über eine längere Zeitperiode schreiben
Wenn dein Roman über Jahrzehnte oder gar über Jahrhunderte spielen soll, dann ist eine Erzählung aus mehreren Perspektiven beinahe unverzichtbar. Zugegeben, ich kenne persönlich keinen Roman, der über Jahrhunderte spielt. Über Jahrzehnte sehr wohl. Figuren wissen in der Regel nicht alles. Sagen wir mal, du willst in deinem Roman ein wichtiges Ereignis beschreiben, das noch vor der Geburt des Protagonisten geschehen ist, dann ist es schwierig, dies aus nur einer Sicht zu erzählen, da der Charakter selbst nicht dabei war.
Du schränkst dich nicht ein
Wenn du nur aus einer einzigen Perspektive schreibst, dann beschränkst du dich auf einen Charakter. Du erzählst die Geschichte durch die Augen deines Protagonisten. Dieser weiß nicht, was andere fühlen und was sie denken. Er kann nur mutmaßen. Der Leser sieht die Welt nur durch den Protagonisten. Das kann ziemlich einschränkend sein. Du hast nicht besonders viel Spielraum.
Der Leser bekommt Einblick in mehrere Figuren
Wenn du aus mehreren Perspektiven erzählst, bekommt der Leser einen tieferen Einblick in mehrere Figuren, die er so wahrscheinlich nicht bekommen hätte. Plötzlich hat der augenscheinliche Grobian eine sanfte, romantische Seite. Menschen können in der Regel keine Gedanken lesen (es sei denn, du machst es zu einem Teil der Geschichte, aber das ist ein anderes Thema). Außerdem hat der Leser die Möglichkeit, sich mit mehreren Personen zu identifizieren.
Geeignet, wenn du eine komplexe Geschichte hast
Wenn du eine sehr komplexe Geschichte erzählen möchtest, die mehrere Zeitsprünge beinhaltet sowie an vielen Orten gleichzeitig spielt, dann ist eine Erzählung aus mehreren Perspektiven auf jeden Fall die richtige Wahl. Eine einzelne Person hat diese Möglichkeiten in der Regel nicht.
Herausforderungen:
Jede Perspektive braucht eine eigene Stimme zur Unterscheidung
Deine Charaktere sollten so geschrieben sein, dass der Leser das Buch aufschlägt und nach ein paar Zeilen weiß, um welchen Charakter es sich handelt. Als Erzähler würde ich für den Anfang den personalen Erzähler verwenden. Es ist auch möglich, einen ich-Erzähler und mehrere personale Erzähler zu verwenden (Bartimäus) oder nur aus der Ich-Perspektive zu schreiben (Gone Girl). Letzteres habe ich aber überwiegend bei Psychothrillern gesehen und finde ich bei mehr als zwei Protagonisten auch ein bisschen schwierig.
Jede Perspektive soll zum Hauptplot beitragen
Jede Perspektive soll in irgendeiner Weise zum Hauptplot beitragen. Natürlich kannst du einzelne Subplot einbauen. Es ist auch möglich, dass deine Charaktere entgegengesetzte Ziele haben. Charakter A möchte den Kaiser beispielsweise stürzen und Charakter B ist womöglich der Kaiser und möchte lieber an der Macht bleiben. Wenn Charakter C allerdings die ganze Zeit damit verbringt, Waldfliegen im Hochgebirge zu fangen, dann solltest du dir überlegen, ob diese Perspektive überhaupt notwendig ist.
Was tun, wenn sich die Protagonisten treffen?
In den allermeisten Geschichten treffen sich die Protagonisten an irgendeinem Punkt. In diesem Fall musst du entscheiden, aus welcher Perspektive du die Szene schreiben möchtest. Überlege, welcher Charakter am Meisten zu verlieren hat und wer am Meisten erzählen kann. Wenn Charakter C mit verbundenen Augen an einen Stuhl gefesselt ist, dann ist er unter Umständen nicht die richtige Wahl.
Wo waren die nochmal?
Bei so vielen Charakteren und unterschiedlichen Reiserouten verliert man schnell mal den Überblick. Schwierig wird es beispielsweise, wenn sich zwei Charaktere in der gleichen Stadt befinden. Es mag banal klingen, aber sorg dafür, dass du nicht vergisst, wer sich gerade wo befindet. Schreib es dir am Besten für jede Szene auf.
Die Geschichte wird komplexer, die Stroylines müssen zusammenpassen
Unterschiedliche Perspektiven macht die Geschichte natürlich komplizierter. Jeder Charakter ist ein Ball, mit dem du jonglieren musst. Kein Ball darf den Boden berühren. Je mehr Charaktere du hast, desto schwieriger ist es, eine in sich stimmige Geschichte zu schreiben.
Was du vermeiden solltest:
Perspektivenwechsel mitten in der Szene
Wenn du den auktorialen Erzähler verwendest, dann ist dies nicht ungewöhnlich, aber ich kann nur davon abraten. Solche Sprünge verwirren deinen Leser nur unnötig. Außerdem fällt es ihm schwerer, sich in die Personen hineinzufühlen, weil alle gleichzeitig reden. Wenn du die Perspektive innerhalb des Kapitels ändern möchtest, dann benutze wenigstens Absätze. Dann hast du eine klarere Trennung.
Bitte kein auktorialer Erzähler
Wo wir schon beim Thema sind: Ich persönlich finde den auktorialen Erzähler sehr schwierig, einfach weil er eine sehr große Distanz erzeugt. Am Anfang des Romans könnte ich ihn mir noch vorstellen, wenn der Leser noch kein Bild von deiner Welt hat. Wenn du allerdings ohnehin beschlossen hast, aus mehreren Perspektiven zu schreiben, dann stehen dir sämtliche andere Möglichkeiten offen. Du kannst beispielsweise aus der Perspektive eines alten Mannes schreiben, wenn du ein bisschen Backstory benötigst.
Die gleiche Szene aus unterschiedlichen Perspektiven schreiben
Wenn sich dein Roman noch in der Entstehungsphase befindet, dann ist es sogar eine gute Idee, unterschiedliche Perspektiven für eine Szene auszuprobieren. Allerdings solltest du dich dann in der späteren Phase für einen Charakter entscheiden. Die gleiche Szene aus unterschiedlichen Perspektiven bringt die Geschichte nur zum Stillstand.
Keine Perspektiven als Plot Device (Exposition, Subplots, zumindest am Anfang)
Führe keine Charaktere ein, nur um sie im nächsten Kapitel zu verheizen. Viele Autoren machen das gerne in Prologen, was ich noch in Ordnung finde. Mitten in der Geschichte finde ich so etwas eher schwierig. Solche Charaktere sind nichts weiter als Werkzeuge. Vor allem, wenn du ein Schreib-Frischling bist würde ich die Finger davon lassen.
Zu viele Protagonisten
Ich habe vor Jahren mal ein Buch geschrieben, in dem ich nach Lust und Laune Protagonisten hinzugefügt habe. Damals habe ich mir darüber noch nicht so viele Gedanken gemacht. Es war auch nicht zur Veröffentlichung gedacht. Ein paar Leute haben es aber gelesen und meinten, dass sie nach einer Zeit den Überblick über die Charaktere verloren hätten.
Was ich damit sagen möchte: wenn du nicht gerade George R.R. Martin heißt, dann konzentriere dich am Anfang auf höchstens drei Perspektiven. Je mehr Protagonisten du hast, desto komplexer wird deine Geschichte. Schließlich willst du jedem Charakter gerecht werden.
Die Geschichte unnötig kompliziert machen
Du hast mit Liebe deine Charaktere entworfen, ihnen eine Vorgeschichte, ein passables Aussehen und eine starke Persönlichkeit verpasst und jetzt willst du am Besten jedem eine eigene Stimme geben? Ich weiß, es ist verlockend. Das macht aber deine Geschichte unter Umständen viel komplizierter, als du es vorhattest. Ich hatte am Anfang drei Perspektiven und nach einer Weile festgestellt, dass es viel spannender ist, wenn ich eine davon weglasse.
Dann las ich mir meine Geschichte noch einmal durch.
Für meinen zweiten Charakter hatte ich zwar eine Beschäftigung gefunden, aber so wirklch überzeugt war ich von seiner Storyline nicht. Vor allem, weil er 80% der Zeit am rumheulen und grübeln war.
Was du unbedingt tun solltest:
Einen eigenen Handlungsstrang für jeden Charakter schreiben, nicht hängen lassen
Wenn du dich dazu entscheidest, mehrere Protagonisten zu verwenden, dann musst du jeden von ihnen pflegen. Jeder braucht einen eigenen Handlungsstrang, der in irgendeiner Weise mit dem Hauptplot zusammenhängt. Bartimäus hat beispielsweise drei Hauptcharaktere: Bartimäus, Nathanael und Kitty. Während Bartimäus widerwillig Nathanaels Aufträge ausführt, feilt Nathanael an seiner politschen Karriere. Kitty dagegen kämpft in einer Widerstandsbewegung, die sich gegen die Regierung stellt. Jeder von ihnen hat eine eigene Vorgeschichte, eigene Motivationen, eigene Ziele. Die Storylines sind unmittelbar miteinander verflochten. Bartimäus würde nicht das machen, was er tut, wenn Nathanael es ihm nicht aufgetragen hätte usw.
Eine ausführliche Charakterisierung für jeden Charakter, Veränderung
Oder nehmen wir Avatar – der Herr der Elemente. Aang reist durch die Welt, um die vier Elemente zu lernen und den Feuerlord zu besiegen. Zuko – der Sohn ebenjenes Feuerlords – verfolgt Aang und seine Freunde. Er ist aber nicht einfach nur ein Antagonist, der den Avatar jagt. Er entwickelt sich während der Geschichte weiter, hat Zweifel, fühlt sich missverstanden. Auch Aang wird im Laufe der Geschichte reifer und verantwortungsbewusster. Beide Storylines sind unmittelbar miteinander verflochten und genau das ist die Kunst bei der Sache.
Eine Übersicht schreiben
Um nicht den Überblick zu verlieren, empfehle ich dir, von anfang an eine Übersicht zu führen. Am Besten einen Zeitstrahl, in den du jede Szene chronologisch eintragen kannst.
Überlegen, ob die Perspektive wirklich notwendig ist
Überlege dir bei jeder Perspektive, ob sie wirklich notwendig ist oder deine Geschichte nur unnötig aufbläst. Wenn du unbedingt aus der Sicht des Kerkermeisters erzählen möchtest, er aber nach drei Kapiteln nichts mehr zu tun hat, dann würde ich ihn höchstens als Nebencharakter auftauchen lassen.
Pro Kapitel ein Charakter
Wie vorher schon erwähnt ist es keine gute Idee, die Perspektive innerhalb der Szene zu wechseln. Am besten beschränkt du dich auf einen Charakter pro Kapitel. Das hat den Vorteil, dass deine Geschichte übersichtlicher ist und der Leser wird nicht so leicht verwirrt. Um es ganz deutlich zu machen, kannst du die Namen als Kapitelüberschriften verwenden. Das musst du aber nicht machen.
Probier es einfach aus!
Fühl dich frei und experimentiere. Schreib aus mehreren Perspektiven, probier auch die Sachen aus, die du vermeiden solltest. Fehler zu machen ist nicht schlimm und in einer frühen Phase sogar wichtig. Dadurch kannst du später deine besten Ideen herausfiltern. Vielleicht stellst du ja fest, dass du doch lieber aus der Sicht von Peter statt Anna erzählen solltest.
Was sind eure Erfahrungen mit mehreren Erzählperspektiven?